„Es gibt kein Ende der Erinnerung“


In einem Wohnhaus in Odessa findet man heute, etwas versteckt, ein kleines Holocaust-Museum. Dort, in einer Vitrine hinter Glas, liegt ein armlanges Stück eines dicken Seils. Das Foto, das ich vor einiger Zeit davon gesehen habe, hat mich nicht mehr losgelassen.

Lieber Herr Schwarzman, vor vier Jahren haben wir uns beim Gedenken in Babyn Jar getroffen. Als wir uns gestern wiedersahen, haben Sie mir die Geschichte dieses Seils erzählt. Es ist der einzige Gegenstand, der heute noch an ein Mädchen aus Odessa erinnert. Das Mädchen hieß Rosa. Rosa ging noch zur Schule, und sie hatte einen guten Freund, Jakow. Sie beide teilten die Schulbank.

Rosa war 16 Jahre alt, als sie im Herbst 1941 ermordet wurde. In jenen Tagen und Wochen wurden tausende jüdische Kinder, Frauen und Männer in Odessa getötet oder aus der Stadt in Ghettos in der Umgebung getrieben. Als Rosa erhängt wurde, einzig und allein, weil sie Jüdin war, sah ihr Freund Jakow sie sterben. Eine Woche lang ließ man sie am Strick hängen. Jakow sah ihren Leichnam und konnte nichts tun. Als man ihren Körper endlich abnahm, blieb nur dieser Strick zurück. In seiner Verzweiflung und Trauer nahm Jakow ihn mit – das Einzige, was er als Erinnerung an seine Freundin bewahren konnte. Ein Stück des Stricks, der ihr den Tod brachte.

Viele Jahre später kam ein alter Mann mit einer alten Tasche in das Museum in Odessa, das Sie, Herr Schwarzman, gemeinsam mit anderen gegründet hatten, um die Erinnerungen der Überlebenden der Shoah zu sammeln und zu bewahren. Der, der da kam, war Jakow. Er brachte Ihnen den Strick, erzählte die Geschichte von Rosas Ermordung und sagte: „Jetzt kann ich ruhig sterben, weil meine Jugendfreundin eine würdige Erinnerung hat.“ Zwei Monate später starb er.


29.1.2025 | Deutscher Bundestag:

Frank-Walter Steinmeier

Roman Schwarzman

 

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