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Wolf Böwig ist Fotojournalist, ein Kriegsreporter, der an Orte reist, während andere sie gerade in großer Zahl verlassen. Beschönigend spricht er von Konfliktregionen. Doch das Grauen, dem er begegnet, überbietet alles, was die Vokabel Konflikt in sich versammeln kann. Er war im Balkankrieg, im Afghanistankrieg und in Afrika unmittelbar nach dem Genozid in Ruanda – nicht zufällig allesamt Weltgegenden, deren Grenzen willkürlich gezogen sind und sich kaum je mit kulturell, historisch oder ethnisch geprägten Räumen decken und in denen es nicht zuletzt deshalb an Vertrauen in die Staatsmacht fehlt.
Was er unterwegs sah und erlebte, glich nicht selten den Szenen eines Albtraums. Folgerichtig führen viele seiner Fotografien an die Grenzen des Zumutbaren – und etliche auch darüber hinaus. Ihn treibe, sagt Wolf Böwig, ein selbstgestellter humanistischer Auftrag an. Es ist ihm nicht um das sensationelle Einzelbild zu tun, vielmehr kehrt er für Langzeitreportagen an viele der Orte Jahr um Jahr zurück und begleitet manche Menschen bereits einen Gutteil ihres Lebens. Früher arbeitete er für die „Neue Züricher Zeitung“, für „Le Monde“ und die „New York Times“. Aber im Tagesjournalimus ist für einen solchen Ansatz kein Platz mehr. So konzentriert sich Böwig heute auf Ausstellungen, Broschüren und Buchprojekte: bildgewordene Anklageschriften, mit denen er ein Bewusstsein für den unmenschlichen Alltag in den Krisenherden der Welt schaffen will. Seine vorerst letzte Reise führte ihn 2017 auf der Grand Trunk Road von der Grenze Burmas über Bangladesch, Indien und Pakistan bis nach Kabul.
Fünf Monate war er unterwegs, mit Bussen, auf Fahrrädern oder zu Fuß, nicht als Tourist, sondern als Beobachter, der siebzig Jahre nach der Teilung des Subkontinents Spuren wirtschaftlicher, politischer und religiöser Konflikte suchte. Was er dabeihatte, war wenig mehr als die Kleidung an seinem Körper sowie zwei Kameras, drei Objektive, Taschen voller Filme – und kleines Werkzeug für sein Tagebuch: Leim und Schere. Denn mit dem, was ihm unterwegs von Bedeutung erschien, klebte er Collagen in eine Kladde: Münzen, Fotos und Zeitungsausrisse, Streichhölzer und Verpackungen, Rasierklingen und Steine. Es ist eine künstlerische Auseinandersetzung mit dem Erlebten, voller Symbole und Metaphern, ergänzt um die Niederschrift seiner Eindrücke. Böwig bezeichnet die Arbeiten als einen Ausbruch ins Innere. Es ist seine Form, Ruhe zu finden im Strudel der Weltpolitik. Zwölf Doppelseiten dieser Tagebücher wird das Reiseblatt im Laufe dieses Jahres zeigen und damit Böwigs Reise nacherzählen – dreitausend Kilometer von Ost nach West durch den gesamten Subkontinent. (F.L.)
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FAZ vom 11. Januar 2018